Antworten auf Lebensfragen

Was ist der Tod?

 
Lieber Freund,

ich fühle mich Dir so nahe und möchte Dir so gerne etwas sagen, das Dein Herz tröstet und Deinen
Geist klärt. Du fragst: „Was ist der Tod?“ Die verschlossene Tür, die der Mensch Tod nennt, ist immer
ein Rätsel gewesen und weil der Mensch sie fürchtet und verabscheut, vermeidet er es, darüber
nachzudenken, solange er begrifflich denkt.

Wenn er sich im Erlebnis eines ihm nahe stehenden Menschen dem Tod stellen muss, kann er wegen seines Kummers und seiner Betroffenheit nicht denken. Dem Menschen erscheint der Tod so endgültig. Weil der Plan
des Lebens Bewegung und Tätigkeit ist, bedeutet der vollkommene Stillstand für den Geist des Menschen einen erheblichen Schock.

Lasst uns über diesen „letzten Feind“, wie er genannt worden ist, nachdenken. Der Tod ist der Abschluss
einer Lebensphase - so, wie der Same, der in den Boden fällt, zu einer neuen Pflanze wird oder wie
die Puppe, die einmal die Raupe war, zum Schmetterling wird. Umgestaltung wäre wohl ein besseres
Wort, weil Umgestaltung eine Veränderung ist - ein Übergang von einem Platz oder Zustand zu einem
anderen.

Dies stimmt überein mit den Worten des Psalmisten: „Und ob ich schon wanderte im finstern Tal.“
„Im“ bedeutet hinein und hinaus. So ist  der Tod ein Durchgang. Die Naturwissenschaftler sagen uns,
dass kein einziges Teilchen Substanz im Weltall verloren wird, sondern einfach nur die Form verändert
und so können wir annehmen, dass auch wir dieselbe universale Substanz sind. Aus Longfellows Werken
haben wir die folgenden Worte über das Leben: „Das Grab ist nicht sein Ziel; Staub bist du, und Staub
wirst du, doch die Seele lebt für immer.“ In dem „Buch der Herrlichkeit“, das vor langer Zeit aus Ägypten
kam, heißt es: „Der Mensch war im Anfang reines Licht, und er zog ein Gewand aus Häuten an; wenn
er sein Gewand aus Häuten wieder ablegt, wird er wieder reines Licht.“

Vielleicht die größten aller Worte, die je über dieses Erlebnis geschrieben wurden, sind die Worte Philos,
eines jüdischen Historikers und Schriftstellers (geboren 20 vor Christus und gestorben 67 nach Christus),
der sagte: „Die Zeit kommt für jeden Menschen, wo er die Pilgerschaft von der Erde zum Himmel antreten
und dieses sterbliche Leben für die Unsterblichkeit aufgeben muss, gerufen von dem Vater, der seine
zweifältige Natur von Seele und Körper in eine einzige Einheit auflöste und sein ganzes Sein zu Geist verwandelte, so rein wie das Sonnenlicht.“ Wenn Du also über dieses Erlebnis, das einem Dir nahe stehenden Menschen widerfahren ist, nachdenkst, bedenke, dass wir alle, wenn der Ruf kommt, diesem Rufe folgen müssen.

Wir wissen, dass das ganze Leben aus Erlebnissen zusammengesetzt ist und das, was wir Tod nennen,
ist nur ein neues Erlebnis. Wir haben das Erlebnis der physischen Geburt, das Erlebnis des Wachstums,
das Erlebnis der Erziehung und der geistigen Entfaltung. Wir haben das Erlebnis der Liebe, der Zugehörigkeit zueinander, des neuen Lebens und der Verantwortung für die Kinder. Es gibt viele Kinder im Leben.

Nicht alle von uns haben Kinder, aber wir alle haben Kinder unseres Geistes. Jede Organisation wie etwa die
Kirche, der Staat, die Regierung, jedes Geschäft, jede Industrie, alle Zivilisation ‑ sie alle sind Kinder des
Geistes der Menschen. Jede Erfindung, jedes Projekt, jede Hoffnung, jeder Wunsch und Plan des
menschlichen Herzens ist ein geistiges Kind.

Wir lieben und pflegen diese Kinder unseres Geistes. Wir erleben die Lust der Empfängnis und die Schmerzen der Geburt. Wir bringen alles hervor. Alles Tun, das wir Leben nennen, ist ein Hervorbringen; deshalb wissen wir, dass auch der Tod ein Hervorbringen sein muss. Was kommt danach? Wir wissen es nicht und wir erkennen, dass wir es nie gewusst haben. Es gab eine Zeit, da wir über die Schule, über das Leben nichts wussten.

Wir wussten nichts von den Menschen, die uns jetzt nahe und teuer sind. Wir kannten unsere eigenen leiblichen Kinder nicht. Wir wussten nichts über unsere Laufbahn, unser Geschäft, unseren Platz in der Welt von heute. Der
unbekannte Tod braucht nicht mehr gefürchtet zu werden als das unbekannte Geschäft, der unbekannte
Mann, die unbekannte Frau, das unbekannte Kind oder jedes andere noch unbekannte Abenteuer.

Wahrlich, unser Leben muss auf Glauben gegründet sein. Lasst uns nicht fragen, sondern lasst uns
jedem Erlebnis, das vor uns liegt, begegnen. Lassen wir jeden Augenblick des Lebens sein wie dieser.
Studiere das Leben und Du wirst das Geheimnis des Todes erkennen. Solange Du lebst, lebe. Finde
in jedem Menschen, der zu Dir kommt, einen Schatz. Du kannst niemand halten, es sei denn in dem
runden Turm Deines eigenen Herzens. Kinder kommen, sie wachsen heran. Du erkennst sie nicht
mehr als kleine Kinder, es sei denn in diesem inneren Zimmer des Geistes.

Das Leben hat mancherlei Erfahrungen, Veränderungen, Ausdehnungen und Wachstum. Viele Menschen kommen und gehen eine Strecke Wegs mit uns im Leben. Sie kommen, sie gehen. Du kommst, Du gehst. Du kannst den Fluss des Lebens auf keiner Ebene des Lebens zurückhalten. Du möchtest es auch nicht. Stagnation ist der Treibsand des Lebens.

Wir müssen uns vorwärts bewegen. Lasst uns mit dem gegenwärtigen Erlebnis vorwärtsgehen und wir
werden feststellen, dass alles zum Guten führt. Emerson sagt: „Nichts ist tot. Die Menschen stellen sich
tot und ertragen Scheinbegräbnisse und kummervolle Nachrufe, und dann stehen sie da, blicken hinaus
aus dem Fenster, heil und gesund in irgendeiner neuen und fremden Verkleidung.“ Irgendein unbekannter
Dichter hat für den Menschen, der durch das Erlebnis geht, das man Tod nennt, folgende Worte gesprochen: „Kommst du dahin, wo ich schon bin, wirst du dich fragen, warum du geweint hast.“

Ich höre Dich sagen: „Ja, aber ich bin verlassen. Was ist mit mir?“ Die Trauer des Todes sollte sich in
Freude wandeln, nicht, weil Du einen Menschen verloren hast, sondern weil Du einen Menschen gehabt
hast. Jede Freude, jedes Problem, jedes Erlebnis, ja selbst die Tränen, was immer ihr gemeinsam hattet,
sind Deine Schätze. Stelle Dir vor, wie das Leben ausgesehen hätte ohne sie. Lass sich Deine Trauer in
Freude verwandeln. Wir haben diejenigen, die den Tod mit Lachen und Musik feiern, als barbarisch
kritisiert. Und doch feiern wir die Geburt mit großer Freude ‑ und der Tod ist die Geburt in ein neues Leben.
„Der Tod ist der äußere Widerschein der inneren Erkenntnis eines neuen Lebens.“

Wir haben die Menschen früherer Zeiten für töricht gehalten, dass sie Essgeräte und bevorzugte
Gegenstände des Lebens in das Grab legten. Solche Gegenstände im Grabe sind nur Symbole der
Überzeugungen im Geiste des Menschen, das Zeugnis der Seele des Menschen, dass der Tod Leben ist.
Wenn wir auch nicht verstehen, welche Art Leben es sein wird, wissen wir, es wird ein neues Erlebnis sein.
Nur in dem verzerrten Geist eines Menschen, der von Furcht erfüllt ist, gibt es Hölle, Verdammnis oder Bestrafung. Sie sind Spukgeister des Lebens ‑ nicht die Wahrheit des Todes.


 

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