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von Sue Sikking
Lieber Freund,
Deine Frage ist so menschlich und sieht uns allen so
ähnlich. Wir sind einander in mancherlei Hinsicht gleich!
Vielleicht wirst Du verstrickt, weil Du die Menschen so sehr
liebst. Wenn wir von Liebe erfüllt sind, ist es nur
natürlich, dass wir
verstrickt werden. Liebe gibt sich, weil sie die große Notwendigkeit zum Geben
fühlt.
Du kannst geben, ohne zu lieben, aber Du kannst nicht lieben, ohne zu
geben. Liebende Menschen sind Menschen, die aus ihrem Kreis hinausgehen, die
jede Aufgabe übernehmen, um ihre Liebe auszudrücken. Menschen, die sehr lieben und stark empfinden, werden manchmal stark verstrickt. Es ist etwas Wunderbares
um das Lieben und das Verstricktwerden, weil wir nicht nur in die Schwierigkeiten
der Menschen verstrickt werden, sondern auch in ihre Siege, ihre Freuden und
das Gute, das zu ihnen kommt. Gesellschaft, ob innere oder äußere, ist der
Preis des Lebens.
Du fragst: „Warum werde ich immer in die Schwierigkeiten
anderer Menschen verstrickt?“ Vielleicht bist Du eine starke Persönlichkeit, sodass
andere Menschen sich in ihrer Not an Dich wenden.
Es ist erstaunlich, wie sehr
wir uns in einer inneren, unsichtbaren Weise aufeinander stützen und verlassen
können. Wir gewinnen eine innere Kraft ohne äußere, bewusste Bemühung.
Wenn wir
nur an irgendwelche Menschen denken, können wir aufgerichtet und erneuert
werden. Das ist die wunderbare Gemeinschaft des Geistes, die in ihrer Kraft
überraschend ist. Diese Menschen sind uns vielleicht nicht nahe, wenn wir Nähe
nach äußeren physikalischen Beziehungen messen.
Wir sind einem Menschen außerhalb unserer Familie oder fern von denen, die wir als dem Bereich „unserer Schwierigkeiten“ zugehörig betrachten, vielleicht näher. Wenn wir beständig an Menschen denken und sie uns immer wieder in den Sinn kommen, gewinnen sie vielleicht unbewusst Glauben und Kraft von uns. Wir haben ihnen etwas zu geben. So ist es gut, die engen inneren Beziehungen zu verstehen, die uns alle angehen.
Vielleicht wirst Du in die Schwierigkeiten anderer Menschen
verstrickt, weil Du eine überentwickelte Neugier für
andere Menschen und für
das, was ihnen zustößt, besitzt. Worauf wir unseren Geist und unsere Gefühle
richten, darin können wir verstrickt werden. Manchmal ist Neugier Interesse und
ist damit gut; aber manchmal ist Neugier eine Leere in uns selbst und wir
versuchen, diese Leere mit dem Leben anderer Menschen zu erfüllen, anstatt
unser eigenes Leben zu führen und unseren eigenen Ausdruck hervorzubringen. Das
ist ein stellvertretendes Leben, das die Nöte des Lebens nicht decken kann.
Es gibt eine große Gefahr im Leben ‑ die Gefahr, es nicht zu
leben. Viele Menschen gehen am Leben vorbei.
Sie nehmen ihr eigenes Leben nicht
wie es kommt und führen es nicht voll und erfolgreich, weil sie zu sehr damit
beschäftigt sind, die Angelegenheiten anderer Menschen zu ordnen und
umzuordnen. Wir haben der irrtümlichen Auffassung gehuldigt, dass das Geben an andere und das Leben für
andere unser Gutes bringen würde.
Das ist nur die halbe Wahrheit. Wir müssen
uns leben und entfalten, sonst sind wir für niemand eine Hilfe.
Wie
können wir anderen helfen etwas zu tun, was wir selbst nicht tun können?
Wir müssen durch etwas, das in uns
ist, geführt werden und wir müssen jedem
anderen erlauben, dieselbe Freiheit zu haben.
Eine der tiefsten und zuweilen schmerzlichsten aller
Wahrheiten, die wir lernen müssen, ist die, dass wir uns
zunächst selbst treu
sein müssen, wenn wir anderen eine Hilfe
sein sollen. Wir waren der Auffassung, dass
blindes Opfer und das Erfreuen
anderer der höchste Dienst wäre, aber wenn wir dieser Auffassung folgen,
stellen wir fest, dass sie unserem eigenen, höchsten Guten nachteilig ist. Wir
sind krank, arm und unglücklich
daraus hervorgegangen und unsere ganze Substanz
ist auf andere übergegangen. Manche Menschen sind
zerrissen und verloren bei
dem Versuch, andere Menschen zu erfreuen, anstatt ihrem eigenen Lebensentwurf
treu zu sein. Das ist ebenso töricht, als wollte eine Rose versuchen, eine
Chrysantheme zu sein.
Wenn Du ein Leben des Opferns und Dienens führst, entwickelt
sich vielleicht eine tiefe Verstimmung in Deiner eigenen Seele und Du wirst
feststellen, dass Du innerlich und äußerlich krank bist. Du wirst bald glauben,
dass Dich die Leute nicht anerkennen oder dass sie Deine Bemühungen für sie
nicht schätzen; Du findest, dass Du davon abhängig bist, wie sie auf das, was
Du für sie tust, reagieren, anstatt zufrieden zu sein, wenn Du Dein eigenes
Leben führst.
Nur wenn wir unser eigenes Leben gut führen, finden wir
Zufriedenheit. Diese Gefühle, dass Du nicht anerkannt wirst und dass die
Menschen Dir gegenüber undankbar sind, sind Symptome des Selbstmitleids,
welches sich daraus entwickelt, dass Du den Angelegenheiten anderer Menschen zu
viel Aufmerksamkeit zollst, anstatt Dich Deinem eigenen Wachstum und Deiner
Entfaltung zu widmen. Wahre Zufriedenheit wird entdeckt, wenn jeder Mensch die
Quelle des Lebens in sich findet und wenn jeder einzelne Mensch seinem eigenen
Antrieb entspricht.
Wenn Du darauf bestehst, den Ideen und Anweisungen andererMenschen zu folgen oder ihnen Deine Ideen und Anweisungen zu geben, dann gerätst Du in vollkommene Verwirrung. Weder Du noch sie werden die wahre, innere Führung hören, die in allen Menschen ist.
Ja, Du sollst anderen Menschen dienen und sie lieben ‑ aber
sei zunächst Dir selber treu. Wie Shakespeare
sagt: „Sei dir selber treu. Und
daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage, du kannst nicht falsch sein gegen
irgendwen.“ Wenn wir auch belehrt worden sind, dass das Leben für andere
an erster Stelle kommt, dürfen
wir uns doch nicht in Fallen fangen lassen.
Manchmal sind dies Familienfallen, manchmal sind es Fallen, die
durch die
Liebe, durch Verpflichtungen und durch die Pflicht gestellt werden.
Jeder von uns muss unabhängig sein ‑ jeder muss von dem
abhängen, was in ihm ist. Mein Vater pflegte zu
sagen: „Wo Glück sein soll, da
muss jedes Fass auf seinem eigenen Boden stehen.“ Jeder von uns muss
sicher
gegründet sein im Mittelpunkt seines eigenen Selbst. Wir haben oft gefühlsmäßige
Bindungen in der
Freundschaft, im Geschäft, in der Liebe und in physischen
Beziehungen gehabt, die uns Angst machten. In
allen diesen Fällen können wir in
Situationen und Verhältnisse geraten, aus denen wir uns nicht ohne großen
Schmerz für uns und andere frei machen können. Oft zögern wir, dies zu tun und
so setzen wir eine unmögliche
Situation immer weiter fort. Lasst uns unsere
Knoten so lose wie möglich knüpfen. Lassen wir alle frei sein, dass
wir uns
ohne Fesseln regen können. Lasst uns starke Beziehungen auf die Freiheit bauen.
Oft glauben wir, Freiheit bedeute ein Vorbeigehen an den
Menschen ‑ aber das stimmt nicht. Wir haben Angst,
wir könnten die Menschen
enttäuschen, aber es ist viel schlimmer, wenn wir uns selbst enttäuschen. Wagst
Du
es, Dir treu zu sein? Natürlich hast Du die Kraft, aber gebrauchst Du sie?
Kannst Du der Kritik, der Verurteilung
und der blinden Liebe anderer
widerstehen und Deine eigene Ausgeglichenheit im Leben bewahren? Kannst
Du auf
Dein eigenes Herz hören und erkennen, was Du tun solltest? Kannst Du Deinen Weg
gehen und es tun?
Mancher Mensch richtet und verurteilt sich durch das Gefühl,
dass er an anderen vorbeigegangen ist, selbst wenn
Herz und Seele über
Verhältnisse weinen, die für ihn unwahr sind und nicht die Erfüllung seines
Lebensgesetzes
sein können. Viele unterwerfen sich unaufhörlich dem, was sie
für ein schönes Aushängeschild halten mit der
Aufschrift: „Ich tue meine
Pflicht.“
Das ist nicht die Wahrheit. Jeder muss zuerst seinem eigenen Selbst
treu sein. Wenn Du nicht weißt, wem Du treu sein sollst oder wenn Du
nicht weißt, was Du tun sollst, dann musst Du vielleicht lernen, auf die innere
Stimme Deiner Seele zu hören. Deine Stimme in Dir wird Dir immer wieder sagen,
was Du tun sollst. Du hörst nicht immer darauf, denn stärker als diese Stimme
in Dir ‑ diese Stimme, die Dich zu Frieden Wahrheit und Güte führt ‑ ist die
Stimme, die Dir von den menschlichen Bindungen erzählt, die Du eingegangen bist, die Stimme des äußeren Sinnes, die Dich ängstlich macht, Du könntest
einen anderen Menschen verletzen oder enttäuschen. Bedenke, dass Du niemand auf
lange Zeit enttäuschen kannst, weil Du zu keinem Menschen falsch sein kannst,
wenn Du
Dir selber treu bist. Nur Gutes kann für jeden dabei herauskommen.
Lasst uns nicht jeden Schritt im Leben erörtern. Selbst wenn
andere sich entrüsten und sagen, wir seien egoistisch, unredlich und herzlos,
wollen wir uns selbst treu bleiben. Wenn wir tun, was uns unsere innere Stimme
sagt, können wir keinen Menschen verletzen oder ihm Unrecht tun.
Glaube nicht, dass Du durch andere Menschen Deinen Frieden
verlierst. Du kannst durch das, was andere
Menschen tun, Deinen Frieden nicht
verlieren. Du verlierst Deinen Frieden durch das, was Du selbst unterlässt
zu
tun. Du musst Deine eigene Seele befriedigen und Dich führen lassen durch den
Geist des Lebens, welches
Dein Leben ist. Nimm Dich selbst in Acht und Du
kannst andere nicht im Stich lassen.